„Menschenwürde am Lebensende“
Fastenpredigt von Dr. Philipp von Trott, Palliativmediziner
„Menschenwürde am Lebensende“
Fastenpredigt von Philipp von Trott, Palliativmediziner
Mein Name ist Philipp von Trott. Ich bin Internist und Krebsspezialist und als Palliativmediziner seit 3 Jahren in der Leitung des Palliativteam Hochtaunus. Ich bedanke mich sehr für die Einladung heute hier zum Thema „Menschenwürde am Lebensende“ zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Ich möchte meinen Text in drei Abschnitte bzw. Begriffe gliedern:
- Würde
- Palliativ
- Praktische Bedeutung
Würde
„Würde“ ist ein vielschichtiger Begriff mit unterschiedlichen Bedeutungen, je nach Kontext. Die meisten assoziieren den Begriff Würde mit unserem Grundgesetz. Im Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Hierzu schrieb der damalige Bundespräsident Johannes Rau (1931 – 2006): „Im Artikel 1 heißt es nicht: Die Würde des Deutschen ist unantastbar, es heißt auch nicht die Würde des Gesunden oder des gut Verdienenden, sondern es heißt: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Das Bundesverfassungsgericht definiert es so: „Die Menschenwürde ist ein Wert, der dem Menschen kraft seines Menschseins zukommt, unabhängig von seinen Eigenschaften, seinem körperlichen oder geistigen Zustand, seinen Leistungen oder seinem sozialen Status.“
Würde ist also ein intrinsischer Wert, der jedem Menschen zusteht.
Kant hat vor etwa 250 Jahren unser Verständnis von Würde geprägt. Er bezeichnet die Würde als unverrechenbar. Ich kann mir neue Schuhe kaufen, wenn sie kaputt sind, sie haben einen Preis. Ich tausche Geld gegen Ware ein. Manche Dinge sind so teuer, dass ich sie mir nicht leisten kann. Aber die Würde des Menschen ist nicht bezahlbar, ich kann sie für kein Geld der Welt abkaufen. Sie hat einen inneren Wert.
Kommen wir nun zum nächsten Begriff:
Palliativ
Pallium = lat. Mantel, Hülle
Pallium bezeichnet also die Hülle, den Schutz des Inneren. Sie ist nicht zu verwechseln mit einem Käfig oder einem Gefängnis. Die Hülle sperrt nicht ein, sondern sie gibt die Chance zum Reifen, Gedeihen, Wachsen oder Abschied nehmen.
In einer schützenden Hülle kann etwas transformieren. Es kann sich auch etwas auflösen unter Schutz vor Blicken anderer, unter der Wahrung der Würde. Es kann auch ein Schutz vor fremden Einflüssen wie Übertherapie, zu viel Belastung oder zu viel Besuchen sein.
Die Hülle hat eine Aufgabe sowohl nach außen, als auch nach innen.
Denken Sie an die Rinde eines Baums oder an das Ei.
Bei äußerer Kälte wärmt sie das Innere, bei starker Hitze gibt sie Schatten und kühlt. Sie ist stark, wenn Einschläge von außen kommen, kann sich aber dann öffnen, wenn das Innere entscheidet, die Hülle nicht mehr zu brauchen. Die Hülle respektiert den Kern.
Die Hülle sorgt dafür, dass das was sie umgibt eine Atmosphäre hat, der sie vertrauen kann, in der innere Ruhe und innere Freiheit herrscht.
Manchmal muss die Hülle sich sehr gegen das Äußere wehren können, wie beim Igel oder der Kastanie. Manchmal ist sie sehr hart, wie bei der Kokosnuss oder der Walnuss, manchmal weich, wie die Samenschoten bei Erbsen oder Bohnen.
Sie ist selbstlos und respektiert die Autonomie dessen, den sie umgibt. Sie verschwindet ganz. Wie die Plazenta nach der Geburt ihre Aufgabe getan hat, so verliert auch die Hülle an Bedeutung und ist nur ein Wegbegleiter oder Wegbereiter gewesen.
Das Innere – der Kern – braucht die Hülle irgendwann nicht mehr. Im Laufe des Lebens brauchen wir immer wieder Wegbegleiter, die uns eine Weile zur Seite stehen. Die Hebamme bei der Geburt, die Eltern und Lehrer in der Kindheit und Jugend, Mentoren in der Ausbildung oder Studium, Freunde, Partner, Familie und für den letzten Weg braucht es auch nur Begleitung bis zur Schwelle.
Die Hülle zeichnet sich nicht durch Aktionismus aus, sondern eher darin etwas behutsam zu nähren, in ihrem eigenen Werden zu unterstützen und auch darin Dinge zu unterlassen.
Praktische Bedeutung
„Ich bin nicht gekommen zu den Gesunden, sondern als Arzt zu den Kranken“ (Markus 2, 17)
Ein berühmter kanadischer Palliativarzt hat seine Patienten folgendes gefragt: „What do I need to know about you as a person to give you the best care possible?“
„Was muss ich über Sie als Person wissen, um Sie bestmöglich betreuen zu können?“
Der kanadische Palliativmediziner lässt also den Patienten die Wahl, das zu erzählen, was für sie in diesem Moment am wichtigsten im Leben ist. Die Trauer über den Verlust des Haustieres. Die Tatsache nicht mehr das Bett verlassen zu können. Der schwelende Konflikt mit der Tochter, verbunden mit dem Wunsch, sich noch zu Lebzeiten versöhnen zu können.
Die Schmerzen im Rücken, die einem nachts den Schlaf rauben. Die Familie, die finanziell nicht versorgt ist, wenn der Patient als Hauptverdiener stirbt. Das Essen, das nicht mehr schmeckt, obwohl das früher die größte Lebensfreude war.
Die Angst vor dem, was in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten vielleicht noch an Symptomen kommen wird. Die Angst vor leidvollem Sterben.
Der Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich sagte einmal: „das eigentliche Ziel der Medizin ist die Wiederherstellung von Autonomie.“
Und tatsächlich trifft das auch zu. Der Chirurg, der eine neue Hüfte einbaut, stellt die Autonomie des Patienten ebenso wieder her, wie der Psychiater, dem es gelingt einer Patientin mit schwerer Depression zu helfen, damit sie wieder selbstbestimmt im Alltag leben kann.
So ist auch für uns Palliativpflegende und Palliativärzte das Ziel immer die Wiederherstellung von Autonomie.
Wer plötzlich mit einer Krebsdiagnose konfrontiert wird, verliert plötzlich seine schützende Hülle. Er wird verletzlich, schwach und fühlt sich ausgeliefert. Es stellt sich ein Chaos an Gefühlen ein. Der Wunsch nach neuer Ordnung ist groß. Dem Wunsch des Patienten nach neuer Orientierung kann durch Aktion, aber auch durch Zuhören, Sprechen, Eingehen und Erklären begegnet werden.
Neben diagnostischen und therapeutischen Kenntnissen braucht der Arzt vor allem eines: die unbedingte Bereitschaft zur Begegnung! Oder wie es Giovanni Maio, der Freiburger Arzt und Medizinethiker: es braucht „verstehende Zuwendung“.
Das setzt voraus, dass sich der Arzt nicht nur mit einzelnen Fähigkeiten, sondern sich mit seinem ganzen eigenen Wesen dem Kranken zuwendet.
Nur so kann der Arzt die Würde des Patienten erkennen. In dem er nicht nur Krankheiten behandelt, sondern den ganzen kranken Menschen. Der Arzt versucht dann nicht – alte Zustände wiederherzustellen, sondern das Gesunde im Kranken zu entdecken und weiterzuentwickeln. Dies geht auch bei palliativen Situationen.
Denn es ist nie der ganze Mensch krank, immer nur ein Teil von ihm.
Die Einzigartigkeit des Kranken und die Unwiederholbarkeit des betroffenen Lebens zu erkennen, bedeutet die Würde zu respektieren.
Die Kunst des Arztes liegt darin, diese Komplexität angemessen zu bewältigen. Die Komplexität der Lebensgeschichte, der Krankheit, der momentanen Situation, der Wünsche und Perspektiven.
Im Krankenhaus oder in der Arztpraxis ist der Patient zu Gast. Das Persönliche am Patienten ist auf das Äußere, wie die Kleidung reduziert. Im Krankenhaus ist oft auch die Kleidung an die klinikeigenen OP-Hemdchen angepasst. Hier gibt der Patient seine Hüllen ab. Die Individualität ist deutlich reduziert.
Ganz anders ist es bei unserer Arbeit im ambulanten Palliativteam. Wir besuchen die Patienten zum größten Teil in ihrem häuslichen Umfeld.
Schon bei Eintreten durch das Gartentor durchschreiten wir die erste Hülle des Patienten, danach die Haustür und zuletzt die Tür zum Schlafzimmer. Ohne Respekt vor der Würde des Patienten könnten wir unsere Arbeit gar nicht tun. Der Patient öffnet für uns nicht nur alle seine (Schutz-) Türen, sondern auch in seiner Krankheit und Verletzlichkeit, die Tür zu seinem Inneren, zu seiner Seele. Hier ist es zwingend geboten, für uns Helfende unserem Gegenüber empathisch zu begegnen. Gleichzeitig dürfen wir aber auch die Angehörigen kennenlernen, die Möbel und die Bilder sehen und somit viel mehr über die Lebensgeschichte unserer Patienten erfahren.
Gemeinsam mit Pflege und Arzt nehmen wir uns Zeit, um unser Gegenüber, den kranken Menschen kennenzulernen. Viel Zeit beim Patienten zu haben ist unser Privileg.
Wir beachten die vier Säulen der Palliativversorgung.
Die körperliche Säule, wie Schmerzen, Übelkeit, Schlafstörungen, Wunden oder Luftnot.
Die psychische Ebene, wie Angst, Depression, Trauer, Verzweiflung, Wut oder Enttäuschung.
Die soziale Ebene, zu der die Familie und Freunde gehören, genau wie Pflegegrad, finanzielle Themen oder Hilfsmittel bis hin zum gewünschten Sterbeort.
Die spirituelle Ebene umfasst vor allem die existenzielle Bedeutung, die das Lebensende mit sich bringt. Gesunde Menschen haben oft keine Not, sich mit spirituellen und existenziellen Themen intensiv auseinanderzusetzen. Das Leben scheint endlos. Wenn der kranke Mensch aber merkt, dass sich jeden Tag der Zustand verschlechtert, dann kommen die Fragen auf, die wir uns früher oder später alle stellen werden: Wie wird das Sterben? Was heißt es tot zu sein?
Was passiert danach? Hier sind wir nicht sprachlos, sondern haben ein offenes Ohr und lassen auch manchmal unsere ganz persönliche Haltung im Gespräch durchklingen.
Wir versuchen auf all diesen vier Ebenen Heilung oder Linderung zu verschaffen. Auch wenn wir die Grundkrankheit, wie z.B. die fortgeschrittene Krebserkrankung nicht heilen können, so können wir doch die Schmerzen nehmen, die Trauer lindern und manchmal auch die Seele heilen.
Wir achten auch immer auf die Ressourcen, die ein Patient hat. Die Kraftquellen. Gibt es Interessen, Hobbies, Dinge, die im Leben Freude gemacht haben. Manchmal geben auch Bilder, Musikinstrumente oder Erinnerungsstücke Hinweise darauf, was dem kranken Menschen viel bedeutet hat. Daran anzuknüpfen, führt oft zu dem Einstieg in eine gute Patienten-Arzt-Beziehung.
Auch die Angehörigen haben wir im Blick. Hier können wir für Entlastung sorgen, Hilfsmittel, Pflegedienst oder Pflegegrad organisieren.
Auch eine gute Körperpflege ist für die Seele heilsam. Dies hat direkt mit Würde zu tun. Jeder Mensch am Lebensende möchte sauber und gepflegt sein.
Der Apostel Paulus hat gesagt: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? … Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr.“ (1. Korinther 3, 16)
Man kann auch sagen: Der Körper ist der Tempel der Seele. Und ein Tempel oder eine Kirche, wie diese hier, ist sauber, wohlriechend und gepflegt.
Manchmal braucht der Patient den Schutz vor dem Äußeren. Neulich bat uns eine Patientin darum, dass sie nicht möchte, dass ihre Kinder gleichzeitig zu Besuch kommen, da sie sich dann immer streiten würden und dies für sie unerträglich wäre. Dann haben wir mit den Kindern gesprochen, dass sie sich bitte bei den Besuchen abwechseln mögen und so die Patientin schützen können.
Manchmal sind wir auch nur Zeuge von großer familiärer Verbundenheit und Liebe, wie neulich bei einem Mitte dreißigjährigen Patienten mit drei kleinen Kindern, der von seiner Ehefrau, seinen Eltern und Freunden liebevoll umgeben war. Das war eine so berührende Situation zwischen einerseits geteilter Trauer, aber auch großer Weisheit und Zuversicht, dass ich selbst weinen musste. Da gelingt es dann nicht, selber ein schützender Mantel zu sein, sondern auch selbst hüllenlos und verletzlich zu werden.
Viel Sicherheit bietet den Patienten unsere Rufbereitschaft rund um die Uhr. Zu jeder Tages- und Nachtzeit sind wir erreichbar und ohne Warteschleife ist immer eine kompetente Pflegekraft am Telefon, die über den Patienten Bescheid weiß. Denn wir besprechen jeden Tag jeden Patienten im Team. Wir besuchen jeden Patienten mindestens einmal pro Woche, manchmal auch täglich, wenn es erforderlich ist.
Neben der ärztlichen und pflegerischen Unterstützung, die eine gesetzliche Krankenkassenleistung und somit für die Patienten kostenfrei ist, bieten wir auch weitereTherapie an, die über Spenden finanziert werden. So kommen je nach Bedarf Musiktherapie, Kunsttherapie, Spiritual Care, Psychoonkologie oder Physiotherapie zum Einsatz.
Wir sind der festen Überzeugung, dass gerade diese Zusatzangebote einen großen Einfluss auf den Erhalt der Würde am Lebensende haben.
So bieten wir auch die Dignity therapy – die würdezentrierte Therapie an. Wir nennen es den „Lebensbogen“. In mehreren Einzelgesprächen lässt sich unsere Psychotherapeutin vom Patienten die Dinge aus seinem Leben erzählen, die für ihn von Bedeutung waren. Die Gespräche werden aufgezeichnet und transkribiert. Daraus erstellt unsere Psychologin ein Dokument, welches dann in mehrfacher Ausführung dem Patienten und seinen Angehörigen überreicht wird und eine Wertschätzung – „Würdigung“ des gelebten Lebens darstellt und somit auch eine Erinnerung für die Familie sein wird.
Manchmal lässt sich trotz all unserer Bemühungen zuhause keine schützende Hülle bilden. Wenn die Wohnverhältnisse keine würdevolle Pflege zulassen, wenn absolute Einsamkeit herrscht oder wenn die Familie zu stark von der Situation belastet ist. Dann bietet das Hospiz genau diesen sicheren Ort an, der ein friedliches Leben bis zum Tod ermöglicht und dabei die Würde des Menschen bewahrt.
Am Ende meiner heutigen Fastenpredigt zum Thema „Menschenwürde am Lebensende“ möchte ich noch einmal die drei Begriffe Würde, Palliativ und praktische Umsetzung zusammenbringen.
Der Menschenwürde kommt am Lebensende eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie ist besonders verletzlich und schützenswert. Daher ist es wichtig, eine Hülle zu schaffen, die die Würde des Kranken bewahrt und ihn ein Stück weit begleitet. Bis zu der Schwelle, über die der kranke Mensch alleine geht und jedem von uns voraus-geht.
Eine gute Palliativversorgung ist so eine Hülle, die uns nicht erst wenn wir sie brauchen, hilft, sondern auch schon ein Stück Gelassenheit im Hier und Jetzt geben darf, wenn wir auf das Ende blicken. So wie es Hebammen am Anfang des Lebens braucht, damit der Schritt in das Leben friedlich gelingt, so sehen wir vom Palliativteam uns als Hebammen am Ende des Lebens, damit auch der Schritt aus dem Leben heraus friedlich gelingt.
Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit!