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Gräbersegnung

Es ist grau und neblig und es nieselt. Die eiskalten Finger halten Chornoten, die jedes Jahr zum Totengedenken auf dem Friedhof herausgeholt werden, abgegriffen, gewellt. Meine ersten Erinnerungen an die Gräbersegnung. Jedes Jahr dasselbe. Da war ich noch eine Teenagerin, kannte niemanden, der auf diesem Friedhof lag.

Und ich habe mich gefragt: Warum? Warum tun wir uns das jedes Jahr an: die Kälte, diese seltsame Stimmung? Und es gab im Anschluss noch nicht einmal einen gemeinsamen, gemütlichen Umtrunk, was die Motivation fürs Frieren sicher erhöht hätte.

Jeder blieb mit der Stimmung dieses Tages allein zurück; oder vielleicht doch nicht? Den Angehörigen tat es gut, gemeinsam die Leere an diesem Tag zu spüren, die der Tod eines lieben Menschen hinterlassen hatte, es war tröstlich für die Älteren auch die Jüngeren beim Gang an die Gräber zu sehen – das Leben geht doch weiter. Es war wohltuend, ein paar Worte auszutauschen, Erinnerung, Schmerz, wiedergewonnene Lebensfreude, Trauer. Und wir Jüngeren? Wir haben gelernt, das Leben ist flüchtig, der Tod und der Umgang damit gehören dazu. So sehr es auch erschreckt und Angst macht und schmerzt, gilt es den Schrecken des Todes zu begegnen. Nicht mit Kürbisgesichtern und Gruselmasken, sondern mit offenen Ohren und offenen Herzen. Und ja, auch mit der Hoffnung, die zwischen all den Trauerweiden und Grabsteinen glimmt.

Heute gehe ich auch unterm Jahr über den Friedhof, gedenke, bete, höre. Der Friedhof ist ein Ort, an dem ich das Leben besonders intensiv spüre. Hier liegen die großen Gefühle ganz nah beieinander. Die Gegenwart der eigenen Vergänglichkeit und der Schmerz über den Verlust lieber Menschen, viel zu früh oder nach jahrelangem Leiden. Hier ist für mich die Hoffnung greifbar, von der wir damals gesungen haben: So nimm denn meine Hände / und führe mich / bis an mein selig Ende / und ewiglich.

Katrin Gallegos Sánchez