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Voneinander lernen

2016-06-02 20:19:04

Voneinander lernenNavid Kermani wurde 1967 als vierter Sohn iranischer Eltern in Siegen geboren. Er schreibt wunderschöne Bücher. Er ist ein sehr gläubiger Mensch, den als Muslim der christlichen Glaube fasziniert, wie im Buch „Ungläubiges Staunen“ zu lesen. Für das Buch: „Dein Name“ hat er den deutschen Buchpreis erhalten. In dem folgenden kurzen Ausschnitt aus diesem Buch mit autobiographischen Zügen geht es darum, dass der Sohn Navid anfängt, für seinen sterbenskranken Vater die muslimischen Ritualgebete zu lernen, weil es nun an ihm ist, in der Familie diese Gebete zu sprechen. „Nach dem Frühstück fing der Sohn an, das Ritualgebet zu erlernen, das salât oder persisch das mamâz. Die wesentlichen Texte und Abläufe sind ihm bekannt, hinter und neben anderen hat er schon häufig gebetet. Aber allein zu beten, so daß man die Texte und Abläufe ohne nachzudenken selbst abspulen muß, ist anders. Man kommt schnell durcheinander. Er ist daher, als er einsah, beten zu müssen, weil er weder schreiben noch lesen konnte, zu den Vermietern der Scheune gegangen, um aus dem Internet eine Gebetsanleitung auf den Laptop zu laden. Man wird selbst mit der Analogleitung rasch fündig, tippt Islamisches Gebet in die Suchmaschine und kann schon den ersten Link gebrauchen. Da er den Laptop schlecht mit ans Waschbecken nehmen konnte, notierte er sich die neun Abschnitte der rituellen Waschung, des wozuh, am Rande des Feuilletons [...]Die Waschung hatte er schon oft vollzogen, musste nur die Reihenfolge der Körperteile sich merken, was keine Viertelstunde dauerte. Anschließend breitete er die gelbe Vliesdecke, auf der die Frau morgens Gymnastik treibt, neben dem Schreibtisch aus, richtete den Bildschirm so aus, dass er die Gebetsanleitung aus einem Meter Entfernung lesen konnte, stellte sich in Richtung Mekka auf das sozusagen goldene Vlies und betete. Dem Sohn, der immer wieder neben sich auf den Laptop blickte, sich auch mal verhaspelte und deshalb das Gebet neu aufsagen oder die Verbeugung wiederholen musste, gelang es nur sehr eingeschränkt, 'seine Verbindung zur Außenwelt' abzubrechen und 'sich nun in Gedanken vor Allah' zu befinden, wie es die Gebetsanleitung aus dem Internet verlangt. Im Sinne der Rechtsschulen war sein Gebet sicher nicht gültig, obwohl auch sie, anderseits, die gute Absicht honorieren und sein Bemühen daher kaum tadeln würden. Ihm half es am Morgen, er will nicht sagen: es befriedete, aber, nein, abgelenkt kann er es auch nicht nennen, das wäre zu schwach, ihm hat das Gebet ermöglicht, diesen Absatz zu beginnen, statt weiter in der Scheune wie ein Tier im Käfig auf und ab zu gehen. Ihm gefielen die Worte, ihr Klang, die Melodie der Reime genauso wie die Bedeutung, ihm gefielen die Bewegungen. Es könnte eine Befreiung sein, sich am Tag einige Mal zu verbeugen, sich niederzuwerfen auf die Stirn - und dann wieder aufrecht zu stehen. Ob es Gott gibt, steht auf einem anderen Blatt. Nicht um Ihn ist es den Religionen zu tun, von dem sie ohnehin nur Namen aussprechen, vielmehr um die Menschen, deren Handlungen mit oder ohne Gott genauso gut oder schlecht, richtig oder falsch, sinnvoll oder unnütz sind - sofern es ohne Gott gut oder schlecht gibt, richtig oder falsch, sinnvoll oder unnütz. Mit oder ohne Gott fing er heute Morgen mit dem Gebet an, aber für den Vater, der keinen der vier Söhne zur Religion bedrängte. Es war für den Sohn die einzige Möglichkeit, bei ihm zu sein, so empfand es der Sohn, der gestern nichtsahnend aus dem Haus gegangen war, um zu spazieren, als der Vater mitteilte, dass seine Herzklappe ersetzt werden müsse, obwohl sein Blut nicht gerinnt...“Navid Kermani, Dein Name © 2011 Carl Hanser Verlag München ISBN 978-3-446-23743-8Wer mehr von und über Kermani wissen mag, ihn und seine Reden erleben will, dem empfehle ich folgenden youtube-Link:[url=https://www.youtube.com/watch?v=5_JAGn74-do]https://www.youtube.com/watch?v=5_JAGn74-do.[/url]H. Schwalbe.