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Wahl und Würde

25. April 1994. Ein Tag vor den ersten demokratischen Wahlen in Südafrika. Ich bin als Wahlbeobachterin in einem ökumenischen Team in Rustenburg unterwegs. Aufgabe für den Tag war zu schauen, ob die Vorbereitungen für die Wahllokale korrekt laufen. (Z.B. zu prüfen, ob in den Wohngebieten aller Bevölkerungsgruppen ausreichend Wahllokale vorhanden sind.)

Wir kommen in einer Schule an, dort sind schon mehrere Hundert Wählerinnen und Wähler versammelt. Wir sind überrascht. Haben sie sich im Datum vertan. Nein, haben sie nicht. Sie sind gekommen, weil sie alt, gebrechlich, behindert sind. Dieser Tag war vorgesehen, damit genau diese Gruppe wählen kann, aber es war eben „weiß gedacht“. Man hatte Vorkehrungen getroffen, damit in Altenheimen, Krankenhäusern, Gefängnissen gewählt werden konnte. Man hatte nicht bedacht, dass die meisten schwarzen Menschen, die alt und gebrechlich sind, in ihren Familien betreut werden. 

Nun sind sie da. Und warten mit großer Ruhe und Gelassenheit – sie haben Jahrzehnte auf diesen Moment gewartet und dafür gekämpft, es kommt nicht auf ein paar Stunden an. Aber es ist noch etwas, was die Atmosphäre prägt. Ein Raum wie eine Turnhalle, ein hektisches Aufbauen von Wahlkabinen, eine Vielzahl von alten und kranken Menschen, und der prägendste Eindruck für mich ist: WÜRDE

Wenn ich das, was mit diesem Wort gemeint ist, mit einer Situation meines Lebens verknüpfen soll, dann ist es dieser Moment. 

Das Recht zum Wählen – das ist Ausdruck von Würde und Freiheit. 

Ich hoffe, dass sich alle Menschen dessen bewusst sind – und ihr Recht in Anspruch nehmen. 

 

Susanne Degen